Eine Frau kann plötzlich riechen – obwohl sie keine Riechkolben hat

Eine junge Frau mit kongenitaler Anosmie nimmt plötzlich Gerüche wahr, obwohl ihr die Riechkolben fehlen. Offenbar hat der präfrontale Kortex die Verarbeitung von Geruchsreizen teilweise übernommen.

von Thomas Müller
02.05.2024

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© Foto: vladimirfloyd / stock.adobe.com
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er Bulbus olfactorius ist bekanntlich die erste Verarbeitungsstation von Geruchsreizen. Ohne Riechkolben kein Riechen – so die bisherige Vorstellung. Eine junge Frau aus Dresden lehrt die Wissenschaft jedoch eines Besseren: Obwohl sie keine Riechkolben hat, kann sie dennoch Gerüche erfassen. Untersuchungen an der TU Dresden deuten darauf, dass der präfrontale Kortex (PFC) die Aufgabe der Bulbi teilweise übernommen hat (JAMA Otolaryngol Head Neck Surg 2023; online 30. November).

Im Alter von 24 Jahren beginnt die Frau erstmals, Gerüche wahrzunehmen, aber diese neue olfaktorische Erfahrung beschreibt sie als stressig, belastend und die Alltagsfunktion beeinträchtigend. Auch kann sie die registrierten Gerüche nicht zuverlässig unterscheiden und identifizieren.

Vier Jahre später erscheint sie aufgrund ihrer olfaktorischen Probleme in der ambulanten Sprechstunde der HNO-Klinik an der TU Dresden, berichten dort praktizierende Ärztinnen und Ärzte um Dr. Vanda Faria. In der Sprechstunde gibt die Patientin die Intensität der Gerüche mit 8 auf einer 10-Punkte-Skala an, zudem erscheinen ihr die Gerüche als sehr unangenehm (–2 Punkte auf einer Skala von –5 bis + 5).

Die Anamnese ergibt eine angeborene Anosmie, die im Alter von 13 Jahren über einen Geruchstest diagnostiziert worden war. In einer MRT-Untersuchung fehlen zudem beide Riechkolben, eine detaillierte Untersuchung der Nasenfunkton ergibt jedoch keine pathologischen Befunde. Auffällig ist weiterhin eine depressive Erkrankung im Alter zwischen 12 und 22 Jahren.

Das Team um Faria unterzieht die Frau erneut einem Riechtest, der weiterhin auf eine Anosmie deutet, obwohl die Frau behauptet, riechen zu können. Die Geschmackssinn erweist sich als normal, die retronasalen olfaktorischen Funktionsscores deuteten auf eine Hyposmie.

Aktivierung im PFC während der Stimulation

Im EEG erkennen die HNO-Experten olfaktorische ereignisbezogene Potenziale (OERP) – auf einen Geruchsstimulus hin werden Neuronen im Gehirn aktiv, auch das funktionelle MRT zeigt eine Reaktion. Beides weist auf eine Aktivierung im PFC während der olfaktorischen Stimulation. Diese Beobachtung, so Faria und Mitarbeitende, belege die Existenz eines funktionierenden olfaktorischen Systems, das ohne Riechkolben auskomme.

Der Frau wird ein drei Monate dauerndes Training mit kombinierten olfaktorischen und gustatorischen Stimuli angeboten: Sie soll ihr olfaktorisches System zweimal täglich mit angenehmen Gerüchen und Geschmäckern trainieren, etwa intensiven Gewürzen, Obst und Kräutertees. Begleitet wird dies von einem Achtsamkeitstraining, um den damit verbundenen Stress zu mindern.

Im Anschluss an das Training erfolgt eine erneute Analyse. Der Geruchstest mit diversen Riechproben ergibt bei der Riechschwelle, der Unterscheidung und der Identifikation keine wesentliche Verbesserung. Das fMRT offenbart aber weiterhin eine Beteiligung des PFC und erstmals auch des orbitofrontalen Kortex (OFC), die Patientin berichtet zudem über eine erhöhte Sensitivität gegenüber Gerüchen.

Ein Jahr später wird sie erneut untersucht. Im Riechtest zeigt sie keine Verbesserung, die OERP und das fMRT deuten wieder auf eine starke neuronale Response, allerdings nur im PFC. Die Diffusionsbildgebung erkennt zudem eine unilaterale Verbindung zwischen Cortex piriformis – der primären olfaktorischen Hirnrinde – sowie dem OFC. Auch diese könnte für die Geruchswahrnehmung der Frau bedeutsam sein.

Trotz der fehlenden Riechkolben weise die vorhandene Verarbeitung von Gerüchen auf eine enorme Plastizität des Gehirns und seine Fähigkeit, neuronale Schaltkreise umzuleiten, so das Fazit der Ärzte um Faria.

Quelle: Ärzte Zeitung

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